Beratung mit Flipchart

Über den Wandel der psychosozialen Beratung im Werk

In meinem Büro steht ein Monstrum: Maße etwa 120 x 80 x 10 cm, Gewicht gut zwei Wasserkästen, aber deutlich unhandlicher. Das Monstrum verfügt über drei höhenverstellbare Beine, mit denen man es locker auf 1,8 m anwachsen lassen kann. Stabil steht es dann nur in bestimmten Neigungswinkeln und wirklich gerade eigentlich nie. Das Rätsel ist sicher leicht zu lösen. Es handelt sich um einen über 25 Jahre alten Flipchart, keine der modernen Versionen aus Leichtmetall und auf Rollen, nein, ein echter „Dinosaurier“. Doch ich hänge an ihm. Er markiert meine Anfänge in der Beratungsstelle des Kölner Studierendenwerks – und auch eine methodische Zeitenwende.

Aber der Reihe nach. Die Einführung von psychologischer Beratung für Studentinnen und Studenten Anfang der 70er Jahre und „nach langen Diskussionen“, wie es in der „75-Jahre-Chronik Kölner Studentenwerk“ auf Seite 29 erstaunlich lapidar heißt, nahm sich in der öffentlichen Wahrnehmung offenbar recht exotisch aus. Im Kölner Stadtanzeiger amüsierte man sich am 7. Oktober 1970 mit der Schlagzeile „An der Kölner Uni blühen die Neurosen“ darüber, dass Studierende offenbar nicht nur vor Hunden und der Polizei Angst haben können, sondern auch vor Professoren.

Die epische Beschreibung der Räumlichkeiten von damals bis hin zu den karierten Bezugsmustern der Sitzgelegenheiten liest sich aus heutiger Sicht wie eine Karikatur und spiegelt den Zeitgeist: Junge Menschen haben keine Probleme, sondern Flausen im Kopf. Sie haben keinen Stress, sondern eher zu viel Zeit zum Nachdenken. Sie nehmen nicht ihre Befindlichkeit ernst, sondern allenfalls sich selbst viel zu wichtig. Und eine Beschäftigung mit ihrer Gefühlswelt findet eben unter sonderbaren Umständen statt.

Allen Unkenrufen zum Trotz setzten die Kollegen von damals ihre Arbeit unverdrossen fort, mit je einem dieser rostbraun karierten Liegemöbel in ihren Büros. Ihr Selbstverständnis war das der therapeutischen Experten für Seelenleben, die mit den damals etwa 200 Ratsuchenden pro Jahr in längere Prozesse einstiegen, um zu den Wurzeln der Störungen vorzudringen.

Anfang der 90er Jahre übernahm Dr. Peter Schink, später Geschäftsführer des Kölner Studentenwerks, die Leitung der Beratungsstelle. Mit seiner Person lässt sich für die Beratungsarbeit eine Themen-, Methoden- und Angebotserweiterung verbinden. So skizzierte er in einem Konzeptentwurf für einen psychosozialen Beratungsdienst (PSBD) von 1992 die Mindestanforderungen an Personal und Infrastruktur für eine gut ausgestattete und an den sich verändernden Bedarfen der Studierenden orientierte, zeitgemäße Beratungsstelle, einen „Aufbauplan bzw. [ein] Programm für künftiges Handeln“.

In der Folge wurde 1993 die Sozialberatung ins Leben gerufen. Sie trug dem wachsenden Bedarf der Studierenden Rechnung, in immer unübersichtlicheren Rechtsstrukturen Fragen von Finanzierung, Förderung und Versicherung etc. abrufen und sachkompetente Auskunft dazu erhalten zu können. Aber auch die Gewährung von Zuschüssen und Darlehen sowie Beihilfen aus dem Gesundheitsförderungsfonds wurden in dieses neue Aufgabengebiet integriert.

Ende 1994 schlug dann meine Stunde als erste Frau in einem bis dahin rein männlich geprägten Psychologen-Team. Es war die Umsetzung von Dr. Schinks Forderung in dem zuvor genannten Konzeptentwurf: „Frauen haben ein Recht auf Beratung durch Frauen.“

Noch in den Anfängen meiner Beratungsarbeit im Werk – in meinem Beratungsraum stand nie eine Couch! – nahm es sich in unseren analog geführten Kalenderkladden aus wie in einer therapeutischen Praxis: Zehn, fünfzehn und durchaus auch mehr Wochen lang fanden sich dort Eintragungen derselben Namen zu jeweils denselben Uhrzeiten wieder. Wir hatten die Zeit, uns den individuellen Anliegen auch in einer gewissen Tiefe zu widmen. Bei ca. 500 Studierenden, die bis dahin jährlich den Weg zu uns in die psychosoziale Beratung (PSB) fanden, war dies noch möglich.

Doch der Wandel zeichnete sich ab. Inspiriert von den „Arbeitsstrukturierungsgruppen“, die die Oldenburger Kollegen und Kolleginnen Mitte der 1990er Jahre ins Leben riefen, diskutierten wir nun eifrig Konzepte eher handlungsorientierter Trainingsgruppen für Studierende, deren Zeit- und Selbstmanagement nach ihren eigenen Auskünften zu wünschen übrig ließ. Wir hofften, unsere Einzelberatungssettings zu entlasten, indem wir Studierende mit ähnlich gelagerten Anliegen in einem Gruppenangebot zusammenfassten, das ihnen Handlungsoptionen an die Hand geben und die Selbstwirksamkeitsüberzeugung stärken sollte. Zähe Prozesse der Aufarbeitung von Widerständen gegen Sachzwänge und Autoritäten schienen uns mehr und mehr, auch in Anbetracht einer steigenden Nachfrage nach Beratung, eine Aufgabe des öffentlichen Gesundheitswesens zu sein.

 

Zitat: Von kurativ zu präventiv: „Handeln lernen“ statt „behandelt werden“

 

Dabei kam uns eine berufspolitische Parallelentwicklung entgegen: die Verankerung der Psychotherapie als selbstverständliche (nicht nur ärztliche) Leistung im Leistungskatalog der Krankenkassen und in den Köpfen der Menschen.

Für unsere Planung „Gruppenangebot Arbeitsstörung“ fehlte uns aber noch eine zeitgemäße Ausstattung. Eines schönen Tages trafen Dr. Schink und ich eine unerhörte Entscheidung, nein, eigentlich gleich zwei: Wir schaffen einen Flipchart an und – wir besorgen ihn SOFORT!

Zu dem Zeitpunkt befanden wir uns mit der Beratungsstelle auf der Aachener Straße in der Nähe der Kreuzung zur Universitätsstraße und mit Blick auf Melaten. Von dort sind es ca. 1,3 km zu einem großen Büroausstatter, eine Strecke, die wir mit unseren Rädern in knapp sechs Minuten zurücklegten. Dort angekommen, erhielten wir eine kurze sachkundige Beratung, die mit dem Kauf des empfohlenen Modells „mit Stiftablage und flexibler Höhenjustierung“ endete. Wenige Minuten später trugen zwei kräftige Lageristen ein Paket von eingangs beschriebenen Ausmaßen herein und stellten es vor uns ab. „Sollen wir Ihnen das Paket noch ins Auto laden?“ „Wir sind mit dem Rad da.“ „Oh! Ja dann, schönen Tag noch.“ Und weg waren sie.

Ein kurzer Blickwechsel, dann packten wir es an. Wir schafften es tatsächlich verletzungsfrei bis vor die Ladentür. Ich erspare mir Einzelheiten des Ablaufes der Suche nach einer Lösung für unser Transportproblem. Nur so viel sei gesagt: Sie schwankte zwischen analytischer Problembetrachtung (davon eher weniger) und offensiver Entschlusskraft zu Versuch und Irrtum (davon reichlich). Wir entschieden uns für die Variante „Längs, hochkant“:

Man platziere zwei Fahrräder spurexakt hintereinander, lasse zwischen beiden Rädern maximal eine Handbreit Platz und positioniere den Sattel des vorderen Rades auf gleicher Höhe mit dem Lenker des hinteren Rades. Man packe das Transportgut, hebe es „auf drei“ an und richte es der Länge nach mit der Schmalseite auf den Sattel des Vorderrades und das andere Ende auf den Lenker des Hinterrades, unter Beachtung des Neigungswinkels der Räder! Erneut „auf drei“ richte man die Räder auf. Eine Person bezieht Stellung links vorne, die zweite rechts hinten – und los. Problematisch ist dabei, dass der Person rechts hinten der Blick auf die Person links vorne durch das Ausmaß des Paketes verstellt ist. Das Unterfangen erforderte also ein präzise aufeinander abgestimmtes Vorgehen und ein Nachjustieren in regelmäßigen Abständen. So legten wir die 1.300 Meter in ca. 45 Minuten zurück, mit verkrampften Fingern und arg strapazierten Lachmuskeln.

Das Zukunftsweisende an dieser kleinen Anekdote mit ihrem gleichsam symbolhaften Kraftakt sollte uns erst später bewusst werden. Sie steht auch für einen Wandel in der Beratungshaltung: Ressourcenaktivierende Psychoedukation, Ermutigung zu fehlerfreundlichem Experimentieren mit den eigenen Interessen und Neigungen und gleichzeitiges Training der Frustrationstoleranz prägten mehr und mehr unsere professionelle Haltung. Unsere Konzeption einer „Arbeitsstörungsgruppe“ mit dem positiven Namen „Studien-Optimierungs-Programm“ (St. O. P.) ist auch mit zahlreichen inhaltlichen Anpassungen bis heute ein Klassiker im Gruppen-Portfolio geblieben.

Die weiteren Entwicklungen sollten uns für den eingeschlagenen Weg Recht geben.

Um die Jahrtausendwende nahmen mittlerweile jährlich über 800 Studierende Kontakt zu uns auf. Im Wesentlichen drei Faktoren schienen uns dafür verantwortlich zu sein. Ende der 90er Jahre trat das Psychotherapeutengesetz in Kraft und erleichterte den Zugang zu Psychotherapie als Kassenleistung für alle.

Der Bologna-Prozess ab Ende der 90er Jahre veränderte das studentische Leben, dem bis dato der Ruf von grenzenlosem Schlendrian anhing, radikal in Richtung Leistungsorientierung. Der Begriff der „Schlüsselkompetenzen“ wurde allenthalben bemüht, und mit ihm stieg die Zahl der Ratsuchenden, die sich angesichts der neuen Handlungserwartungen überfordert fühlten.

Schließlich gingen auch am Studentenwerk die neuen Technologien nicht vorbei. Neben der Ausstattung der Arbeitsplätze mit PCs und einer digitalen Kalenderführung wurde nun auch ein Außenauftritt im World Wide Web gestaltet.

 

Zitat: Beratung von morgen – zurück auf die Couch?

 

Gleichzeitig setzte man aber auch noch sehr stark auf Flyer und Plakate. Binnen kurzer Zeit erfreute sich die Beratungsstelle durch Aushänge und im Internet einer Medienpräsenz mit durchschlagendem Erfolg.

Um das Jahr 2005 knackten wir die Eintausender-Marke. Auf die steigende Nachfrage reagierten wir mit dem Ausbau unseres Netzwerkes von psychotherapeutischen Praxen und anderen Institutionen, weiteren Kompetenz vermittelnden Angeboten – zunächst 2003 mit der Schreibberatung, 2008 folgte die Lernberatung, jeweils mit psychologischem Beratungsfokus – und mit einer Schwerpunktsetzung auf Kurzinterventionen in unserem Beratungsalltag. Und schon befanden wir uns mitten im Zeitalter der Digitalisierung. Was also lag näher, als der „Generation online“ eine adäquate Plattform anzubieten? Online-Beratung, die Möglichkeit, Anfragen zeit- und ortsungebunden abzusetzen und zeitnah eine Antwort zu erhalten, gibt es in der Beratungsstelle nun schon seit 2012.

Die Corona-Pandemie ab dem Frühjahr 2020 wirkte schließlich noch einmal wie ein Booster: Kurzfristig musste auf die notwendigen Kontaktbeschränkungen mit neuen Beratungsformaten geantwortet werden: Neben der Beratung per Telefon ist mittlerweile die Video-Beratung aus dem Portfolio nicht mehr wegzudenken.

Es klingt verlockend: Um einen Telefontermin wahrzunehmen, einem Video-Chat beizutreten oder eine E-Mail zu verfassen, muss ich die heimische Couch nicht mehr verlassen, weder als Ratsuchende*r noch als Beratende*r. In Anbetracht von aktuell über 2.000 ratsuchenden Studierenden Jahr für Jahr werden womöglich Zeit und Zeitersparnis zu kritischen Entscheidungsfaktoren für „effiziente“ Beratungsstrukturen. Fluch oder Segen? Fantastisch oder gruselig? Kann irgendetwas eine zutiefst menschliche Begegnung ersetzen? Mimik, Gestik, Körperhaltung, Gerüche und Atmosphärisches, Stimmlagen und „Aura“ – alles verräterische Indikatoren unserer Gefühlswelt und zugleich häufig so bedeutsam für eine adäquate professionelle Reaktion.

Das „intuitive“ konzeptionelle Selbstverständnis der Beratungsstelle war stets geprägt von fortlaufender Adaption an den Wandel der Bedarfe unserer Zielgruppe. Anpassungsfähigkeit von Beratungsformaten an aktuelle Entwicklungen ist ein unbedingtes Erfordernis, ohne dass die grundsätzliche Konzeption zum Spielball flüchtiger Trends werden darf. Die Integration der neuen virtuellen Möglichkeiten in dieses Beratungsselbstverständnis wird die nächste große Herausforderung sein, vor der wir stehen.

Mein eingangs beschriebenes Flipchart-Monstrum hat alle Entwicklungen mitgemacht und überlebt. Generationen von Studierenden haben auf ihm ihre Prüfungspläne skizziert, Pro- und Kontra-Entscheidungen abgewogen, ihre Familiensysteme visualisiert und darauf ihre Sorgen und Ängste gebannt – ganz analog, physisch greifbar und auf Wunsch zum Mitnehmen.

Was mich betrifft: Das soll auch so bleiben.

Autorin: Dr. Gaby Jungnickel, Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin, seit 1994 für das WERK in der psychologischen Beratung, seit 2008 Leiterin der Abteilung Beratung, Kinder und Soziale Angebote.